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Serie von Zwischenfällen Was ist mit Frankreichs Atomreaktoren los?

Im Dezember wurden vier Reaktoren in Frankreich abgeschaltet, weitere könnten folgen – als Vorsichtsmaßnahme. Trotzdem wirbt das Land dafür, Kernenergie als nachhaltig einzustufen. Wieso? Die wichtigsten Fragen und Antworten
An der Mosel liegt das französische Kernkraftwerk Cattenom. Das Kraftwerk verfügt über vier Druckwasserreaktoren.

An der Mosel liegt das französische Kernkraftwerk Cattenom. Das Kraftwerk verfügt über vier Druckwasserreaktoren.

Foto: CHROMORANGE / IMAGO

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Mit erstaunlicher Regelmäßigkeit kommen derzeit aus Frankreich Nachrichten zu Kernreaktoren, die wegen Sicherheitsmängeln abgeschaltet werden müssen, und zu neuen Atomkraftwerken, deren Bau sich immer weiter verzögert – und sich teils extrem verteuert.

Diese Nachrichten fallen in eine Zeit, in der Politikerinnen und Politiker auf EU-Ebene darüber streiten, ob Kernkraft als nachhaltig eingestuft werden darf und sollte. Die Frage zur sogenannten Taxonomie  ist noch nicht ausdiskutiert. Doch die französische Position ist klar: Als CO₂-arme Form der Stromerzeugung sei die Atomkraft unverzichtbar auf dem Weg der EU in Richtung Klimaneutralität. Frankreich gilt seit Jahren als starker Befürworter der Technologie.

Ein Blick nach Frankreich zeigt allerdings auch: Es könnte schwierig werden, das Versprechen einer sicheren und günstigen Energieversorgung durch Kernkraft einzuhalten.

Wie wichtig ist die Kernkraft für Frankreich?

Anders als in Deutschland, wo im Jahr 2020 rund elf Prozent  des erzeugten Stroms aus Kernenergie gewonnen wurden, stützt sich die Energieversorgung der Französinnen und Franzosen ganz massiv auf Atomkraft: Mehr als 70 Prozent  des erzeugten Stroms wurden 2020 in Atomkraftwerken produziert – Frankreich liegt im EU-Vergleich damit auf Platz eins, mit deutlichem Abstand vor der Slowakei, Ungarn und Bulgarien. Im Mittel stammen derzeit 26 Prozent des erzeugten Stroms in der Europäischen Union aus Atomenergie.

Der Anteil von Windkraft und Sonnenenergie am Strommix beträgt in Frankreich insgesamt nur etwas mehr als zehn Prozent.

Wie viele Reaktoren gibt es in Frankreich?

Das Unternehmen EDF (Électricité de France) betreibt 56 Reaktoren an insgesamt 18 Standorten  in Frankreich. Der Konzern ist mehrheitlich in staatlicher Hand und zählt zu den größten Stromerzeugern der Welt. Zuletzt dauerhaft abgeschaltet worden war das Kernkraftwerk Fessenheim im Jahr 2020. Die Anlage, die sich unweit der deutschen Grenzen befindet, war das älteste und leistungsschwächste französische Kernkraftwerk.

Die Reaktoren, die – grundsätzlich – betrieben werden, unterscheiden sich in ihrem Leistungsniveau: Vier Reaktoren haben nach Angaben von EDF eine Leistung von 1450 Megawatt, 20 Reaktoren erreichten eine Leistung von je 1300 Megawatt, die Leistungsstärke der 32 übrigen Reaktoren lasse sich mit 900 Megawatt beziffern. Ein solcher 900-Megawatt-Reaktor produziert nach Angaben des Betreibers durchschnittlich 500.000 Megawattstunden pro Monat. Das entspreche dem Stromverbrauch von rund 400.000 Haushalten.

Wie ist der Zustand der Meiler?

Nicht alle der 56 Reaktoren können ohne Unterbrechung laufen. Aktuell sind zehn der Meiler außer Betrieb. In den vergangenen Wochen waren gleichzeitig bis zu 17 Reaktoren abgeschaltet. In einigen Fällen lag die Ursache in geplanten Wartungsarbeiten, die wegen der Coronapandemie verschoben worden waren. Doch vier der leistungsstärksten Reaktoren mussten aus Sicherheitsgründen abgeschaltet werden oder bleiben, zwei in der Gemeinde Chooz nahe der belgischen Grenze, zwei in der Stadt Civeaux im Westen des Landes. Warum?

Im Dezember waren im Atomkraftwerk Civeaux bei einer Routine-Inspektion Risse in der Nähe von Schweißnähten an Rohrleitungen entdeckt worden. Die Rohre sind Teil des Sicherheitskühlsystems. Daraufhin entschieden die Betreiber, die beiden Reaktoren, die seit 25 beziehungsweise 23 Jahren laufen, vorsichtshalber nicht wieder hochzufahren. Die betroffenen Teile müssten ausgetauscht werden. Und EDF zog weitere Konsequenzen: Weil die beiden Reaktoren im Atomkraftwerk Chooz nach demselben Konzept gebaut wurden und ebenfalls von Sicherheitsmängeln betroffen sein könnten, schaltete das Unternehmen auch diese Meiler Mitte Dezember ab.

Möglich ist, dass weitere Reaktoren folgen. Erst am Donnerstag sagte eine Vertreterin der französischen Atomaufsichtsbehörde Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire: Die Mängel, die bei den Reaktoren der letzten Generation festgestellt wurden, seien auch bei einem anderen Reaktor in Penly in Nordfrankreich festgestellt worden. Das Kernkraftwerk Penly im Norden Frankreichs besteht aus zwei Reaktoren, von denen einer betroffen ist. Der Reaktor war für die Wartung heruntergefahren worden. EDF müsse nun alle Daten aus früheren Kontrollen überprüfen, heißt es von der Atomaufsichtsbehörde weiter. »Wir wissen nicht, ob es anderswo Probleme gibt.«

Dass die Reaktoren abgeschaltet wurden, zeigt sich natürlich auch an der verfügbaren Strommenge. Der Netzbetreiber RTE warnte bereits, dass im Fall einer Kältewelle Industriebetriebe heruntergefahren werden müssen. Auch Stromausfälle in Privathaushalten seien nicht garantiert auszuschließen.

Wo lagert der Atommüll?

Die Sicherheit ist ein Faktor, der die Verlässlichkeit der Stromproduktion aus Kernenergie limitiert. Ein anderer ist die Frage der Atommülllagerung. Derzeit wird ein großer Teil des französischen Atommülls in der Wiederaufbereitungsanlage in La Hague verwahrt. Wiederverwertbare Produkte aus den abgebrannten Brennelementen können dort aufbereitet werden. Ein Endlager für hoch radioaktive Abfälle ist La Hague aber nicht. Und seine Kapazität ist nicht unbegrenzt: Das aktuell verfügbare Lagerbecken könnte bereits 2030 voll sein. Ein weiteres Becken ist in Planung. Ein genehmigtes Endlager, in dem der strahlende Müll über viele Zehntausend Jahre lagern kann, gibt es in Frankreich – wie auch in ganz Europa – nicht.

Nahe der Ortschaft Bure, etwa auf halber Strecke zwischen Paris und Straßburg, betreibt die ANDRA, die französische Behörde, die für die Entsorgung und Endlagerung radioaktiver Abfälle zuständig ist, ein unterirdisches Labor in rund 500 Meter Tiefe, das zu einem Endlager umgebaut werden soll. Das Tongestein in der Region eigne sich dafür gut. Genehmigt ist der Ausbau noch nicht.

Was plant Frankreich für die Zukunft?

Perspektivisch soll auch in Frankreich der Anteil von Atomstrom am Strommix sinken – auf 50 Prozent bis zum Jahr 2035. Zu diesem Zeitpunkt werden die dann noch laufenden Reaktoren im Durchschnitt 50 Jahre alt sein. Für einen Teil der Anlagen hat die Atomaufsichtsbehörde eine Verlängerung der Laufzeiten von 40 auf 50 Jahre bereits genehmigt.

Und neue Kraftwerke sind geplant: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der sich mitten im Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl im April befindet, wirbt eifrig für den Ausbau der Kernkraft. Die Atomenergie sei ein »Glücksfall« für Frankreich, sagte er kürzlich. Und kündigte Investitionen in Höhe von einer Milliarde Euro in den Bau neuer Reaktoren an. Darauf, welcher Reaktortyp gefördert werden soll, legte er sich nicht fest. EDF plant aber bereits den Bau von sechs weiteren sogenannten EPR – europäischen Druckwasserreaktoren der dritten Generation (III+). Frankreichs Rechnungshof setzt für einen solchen Reaktor eine Bauzeit von 15 Jahren an.

Geforscht wird auch an neuen SMR-Reaktoren , sogenannten Small Modular Reactors. Diese Minimeiler sollen teils kaum größer sein als ein Einfamilienhaus, sicher und in ihren Einzelteilen leicht zu transportieren. Frühestens 2035 sollen die ersten SMR-Reaktoren in Frankreich einsatzfähig sein – ob sie dann auch wirtschaftlich sind, ist unklar.

Während SMR-Reaktoren vor allem als Konzepte existieren, wurden erste EPR-Reaktoren bereits in Betrieb genommen: Seit Dezember läuft ein EPR-Reaktor in Finnland. Auch dessen Bau hatte sich massiv verzögert und verteuert. Die ersten beiden EPR-Reaktoren der Welt waren 2018 und 2019 in China ans Netz gegangen, im Kernkraftwerk Taishan. Wegen technischer Probleme war einer der Reaktoren im Juli 2021 abgeschaltet worden. Konstruktionsfehler des Reaktordruckbehälters sollen der Grund dafür gewesen sein, dass radioaktives Gas aus dem Reaktor austreten konnte.

Was werden die französischen Kernkraftpläne kosten?

Der französische Rechnungshof schätzt, dass es mehrere Hundert Milliarden Euro kosten wird, die Stromproduktion in Frankreich insgesamt zu modernisieren. Was einzelne Reaktoren in Zukunft kosten werden, lässt sich schwer abschätzen. Doch bisher erwies sich ihr Bau häufig als deutlich aufwendiger und kostspieliger als gedacht.

Ein Beispiel ist der EPR-Atomreaktor in Flamanville, auf dem nordwestlichsten Zipfel der Normandie. Ursprünglich sollte der Reaktor, an dessen Entwicklung anfangs auch Siemens beteiligt war, 2012 ans Netz gehen – als Vorzeigeprojekt der französischen Atomindustrie. Doch die Inbetriebnahme verzögerte sich immer wieder, mehrfach gab es technische Probleme, unter anderem mit Schweißnähten. Am Mittwoch teilte das Unternehmen EDF mit, dass der Termin, zu dem das Befüllen der Brennelemente geplant gewesen sei, erneut verschoben werden müsse – von Ende 2022 auf das zweite Quartal 2023, mit elf Jahren Verspätung. Bis zur Inbetriebnahme müssten etwa hundert Schweißnähte repariert werden.

Die Kosten steigen nach Unternehmensangaben von 12,4 auf 12,7 Milliarden Euro. Der Rechnungshof kommt hingegen zu einem anderen Ergebnis: Die Kosten seien mittlerweile von 3,3 auf mehr als 19 Milliarden Euro gestiegen.

Was hat das mit der Taxonomie zu tun?

Dass Atomkraftwerke so teuer sind, ist einer der Gründe für die Vehemenz, mit der Frankreich für die Einstufung von Kernkraft als »grüne« Technologie kämpft.

Der französische EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton hatte der Zeitung »Journal du dimanche« vor knapp einer Woche gesagt: »Allein für die bestehenden Kernkraftwerke werden bis 2030 Investitionen in Höhe von 50 Milliarden Euro erforderlich sein. Und für die neue Generation werden 500 Milliarden benötigt.« Um an dieses Geld zu kommen, sei es »entscheidend«, sagte Breton weiter, die Atomkraft als nachhaltige Energieform einzustufen.

Worum geht es dabei? Die EU-Kommission hatte in der Neujahrsnacht einen Vorschlag zur sogenannten Taxonomie an die Regierungen der 27 Mitgliedstaaten geschickt. Unter Taxonomie versteht man grundsätzlich eine Art der Klassifizierung nach bestimmten Kriterien – in der Biologie bezeichnet man so etwa die Einordnung eines Lebewesens in eine Gattung und eine Art. Klassifiziert werden können aber auch Formen der Energiegewinnung: als nachhaltig oder nicht. Und entsprechend als finanziell förderwürdig oder nicht.

In ihrem Entwurf schlägt die EU-Kommission vor, dass Investitionen in neue Atomkraftwerke als »grün« klassifiziert werden, wenn sie neuesten Standards entsprechen und wenn die Betreibenden einen konkreten Plan für die Lagerung radioaktiver Abfälle bis 2050 vorlegen können. Auch Investitionen in neue Gaskraftwerke sollen übergangsweise als klimafreundlich gelten können – ein anderes Thema, jedoch ebenfalls umstritten. Denn um erneuerbare Energien  handelt es sich weder bei Atomkraft noch bei Erdgas.

Wann wird im Streit zur Taxonomie entschieden?

Ursprünglich sollten die Mitgliedsländer der EU den Vorschlag der Kommission bis zum 12. Januar kommentieren. Diese Frist wurde nun bis zum 21. Januar verlängert. Verhindern ließe sich dieser Vorstoß der Kommission nur mit einem Gegenvotum von mindestens 20 EU-Staaten, die auch noch mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU vertreten. Oder mit den Stimmen von mindestens 353 Abgeordneten im EU-Parlament. Bisher haben sich allerdings wenige Länder gegen die Aufnahme der Atomkraft in die Taxonomieverordnung ausgesprochen – neben Deutschland unter anderem Österreich, Luxemburg, Dänemark und Portugal.

Die Bundesregierung, die noch in diesem Jahr den Atomausstieg vollziehen will, ist dagegen, Atomkraft als klimafreundlich einzustufen. Umweltverbände forderten die Bundesregierung in einem offenen Brief auf, gegen die Pläne der EU-Kommission zu klagen. Dass die EU-Kommission Atomkraft als nachhaltigen Energieträger einstufe, konterkariere die Intention massiv, hieß es in dem Schreiben.

Das gilt allerdings auch für Erdgas. Damit hat die Bundesregierung kein so großes Problem.

Mit Material von dpa und AFP